POST SCRIPTUM

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The Long & Winding Road

«Blutland»/»Bloodlands» ist in erster Linie ein Film des Bildes, nicht der Worte, was durch die fremde, unbekannte Sprache noch offenbarer wird. Die Dialoge sind auch deshalb kurz, prägnant und in ihrem Wesen einfach gehalten, denn es würde der Glaubwürdigkeit keinen Vorschub leisten, wenn die prähistorischen Protagonisten in gross angelegten Kolloquien und Debatten ihre Lage reflektierten. Der Weg dieser Menschen war beschwerlich, gefährlich und wohl tatsächlich und buchstäblich the long and winding road, die ihnen viel abverlangte. Dennoch dürften sich die Menschen auch vor 4’300 Jahren Gedanken gemacht haben, wer sie waren und wohin ihr Weg sie führen würde.

Die Welt von damals war vielleicht einfacher bzw. weniger komplex gestrickt als die unsere und, wie eingangs bereits erwähnt, und allzu oft eine Welt in Schwarz und Weiss und ohne Pastell: Wer zögert und zaudert, ist verloren. Das Leben dieser Menschen ist ein einziges Trotzen: Gegen die Feinde, gegen die bösen Geister und gegen eine Natur, die in ihrer Schönheit zwar erhaben, in ihrer Wirkung aber durchaus tödlich sein kann. Aber als banal dürfen wir die Menschen von damals auf keinen Fall bewerten, und trotz der im Vergleich zur Moderne vielleicht ungleich weniger vorhandenen strukturellen Nuancen sollten wir unsere Vorfahren in ihrem Wissen, Denken und in ihrem Intellekt absolut nie unterschätzen. 

Das Individuum & das Kollektiv

Es wird heute immer wieder erörtert, wie stark wir aus unserem gesellschaftlichen Fokus vorzeitliche, antike oder gar mittelalterliche Geschichte betrachten oder gar beurteilen sollten oder überhaupt können. Es bleibt letztlich Spekulation, ob die Menschen damals einer ähnlichen Moral-Vorstellungen und im Grundsatz einer ähnlichen Ethik gefolgt sind wie wir heute Lebende. Diese Frage wird noch virulenter, wenn man die Unterschiede in Ethik und Moral in der Gegenwart betrachtet, wenn in der internationalen Diskussion etwa Menschenrechte oder Gender-Fragen im Raum stehen. Es ist offensichtlich, dass der Westen und China in Sachen Menschenrechte nicht konform gehen, dies auch, weil im asiatischen bzw. fernöstlichen Raum das Recht des Individuums als weniger wichtig gewertet wird als das kollektive Wohl und das Funktionieren des Kollektivs von weit grösserem Belang ist als dem auf Individualismus getrimmten Westen.   

Und wie sah eine Ethik oder Moral vor 4’300 Jahren aus? Wir wissen es nicht und alles, was uns bei dieser Frage bleibt, sind Mutmassungen, aber auch Quervergleiche mit Steinzeitgesellschaften, zu denen wir noch in jüngerer Geschichte Zugang hatten. Quervergleiche stehen uns aber auch in der frühgeschichtlichen und antiken Literatur zur Verfügung und gerade aufgrund dieser Vergleiche denke ich nicht, dass der sogenannte Individualismus ein bloss postaufklärerisches Phänomen darstellt, wie in letzter Zeit oft reklamiert worden ist. Uralte indianische Märchen etwa schildert uns einsame Krieger und individuell agierende Glücksritter und selbst die Bibel erzählt uns von den hier bereits erwähnten Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob, deren Geschichte die einschlägigen Wissenschaften um 1’800 – 1’700 v. Chr. verorten; es sind dies aber zweifellos Geschichten von Einzelgängern, Eigenbrötlern und Individualisten, die gerade durch ihren Drang, einen eigenen Weg zu gehen, am Ende reüssieren. Zwar wurden die Geschichten der Patriarchen von den hebräischen Gelehrten erst während der babylonischen Gefangenschaft (um 500 v. Chr.) aufgeschrieben, doch haben die Schreibenden diese Geschichten nicht selbst ersonnen; vielmehr haben sie aus dem bereits damals uralten Fundus der hebräischen Kultur geschöpft, die in ihrer zusammengetragenen und festgehaltenen Gesamtheit erst im babylonischen Exil letztlich final das Judentum definierte. 

Noch viel weiter zurück führt das bereits angeführte Gilgamesch-Epos; dieses sumerische Werk erzählt in vielen Episoden letztlich nichts anderes als die Suche des Einzelnen nach Glück und Unsterblichkeit; ein Individualitätstrip also, der bereits vor rund viereinhalbtausend Jahren niedergeschrieben worden ist. Ein weiterer Zeuge für einen bereits vor Jahrtausenden herrschenden Individualismus markieren die frühzeitlichen Helden des griechischen Altertums – Herakles, Theseus, Ariadne, Medea oder Jason und der Zug der Argonauten und erst recht die Ilias und die Odyssee, die als epochale Sagas bereits um 700 v. Chr. vom griechischen Dichter Homer geschaffen worden sind. Homers Epen strotzen nur so von Egomanen, selbstüberzeugten Kempen und todesmutigen Heroen, die um jeden Preis ihr eigenes Andenken ins kollektive Gedächtnis pushen wollen. Das zweite Homer-Epos schliesslich, die Odyssee, behandelt, es wurde hier bereits dargelegt, mit dem bereits erwähnten König von Ithaka einen individuellen Urtypus per se: Odysseus handelt als Individualist und tut, wie es ihm beliebt und er scheint sich selbst als das Mass der Dinge zu sehen.       

I EXIST!

Das Neolithikum und die frühe Bronzezeit sind eher eine Epoche der Gemeinschaften, in der die Individuen tendenziell schutzlos waren und deshalb auf ein Leben in zumindest kleinen Gruppen aufeinander angewiesen sind; der Einsame ist gefährdet, denn nur das Kollektiv vermag den Einzelnen vor den Risiken und den Gefahren zu retten in einer Welt, die ein Erbarmen als Tugend nicht kennt. Aber es wird auch in dieser Zeit starke und überzeugte Individualisten gegeben haben – Utnapischtims eben, Abrahams oder jemanden wie Odysseus – die als einsamen Jäger, als entschlossenen Krieger und als ihr Glück suchende Mavericks durch die Lande zogen, dem Feind die Stirne bietend, um sich nur bedingt vor unsichtbaren Mächten zu ducken. Sie widerstehen aller Unbill, stellen sich ihrem Schicksal und ihren Ängsten, während sie einer feindlichen Welt entgegenhalten: «I exist!»

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